Nachruf

Zum Tod von Dorothee Sölle

von Pfarrer Winfried Anslinger am 6. Mai 2003

Der Name Dorothee Sölle, beiläufig ins Gespräch eingestreut, war lange Zeit eine Art Lackmustest, um Orthodoxe und Fundamentalisten in unserer Kirche zu identifizieren. Für mich war sie kein rotes Tuch. Wer ihr begegnete, war normalerweise verwundert, dass hinter dem großen Namen eine kleine Person steckte, schlicht gekleidet, mit kurzem Haar und ganz bescheidenen Umgangsformen. Man hätte sie für die Dekanatssekretärin halten können, die gleich noch den Stenoblock holt. Ihre Bedeutung offenbarte sich erst, wenn sie den Mund aufmachte. Dann allerdings kamen druckreife Sätze heraus. Wesentliches, das sofort zur Sache kam. Einmal haben wir sie in Heidelberg zu einer Veranstaltung geladen. Ein Hotel musste gesucht werden. Da schrieb sie zurück, ein Hotel wäre ja viel zu teuer, sie übernachte gern auch in einer Studentenbude Es sollte nur einigermaßen sauber sein. Thema des Abends war: Unrechtsstrukturen und unsere Solidarität mit den Armen. Sie lebte was sie lehrte. Und sie lehrte kräftig gegen den Strich: "Atheistisch an Gott glauben", "Frauen in der Bibel", "Christen für den Sozialismus", das ließ bei den Gralshütern etablierter Interessen Zornesadern schwellen.

Wie kann man nach Auschwitz noch gregorianisch singen, fragte sie. So konnte nur sprechen, wer es mit dem Gotteslob genauer nahm als Dekanatsmusikdirektoren das damals durften. Und wer sie kannte, wusste, dass Sätze wie "Gott ist tot" alles andere als Ausdruck metaphysischer Gleichgültigkeit waren. Mir kam sie manchmal vor wie Jakob in der Geschichte am Jabbok, wo er mit dem fremden Gott ringt und ihn nicht gehen lässt, weil er den Segen will. Um Segen für eine unselige Welt voller Unrecht, Gewalt und Not, darum kämpfte Dorothee Sölle lebenslang. Darum stritt sie mit ihrem Gott, den sie nicht mehr als autoritären Patriarchen über den Wolken akzeptieren wollte. Dem sie vielleicht lieber in einer geflüsterten Offenbarung nähergekommen wäre, die da lautete: "She is black".

Um eine bessere Welt stritt sie auch mit irdischen Mächten. Bekannt wurde sie mit dem "politische Nachtgebet" in Köln, ihrer Heimatstadt. Unerhört: Politik in der Kirche. Das war schon deswegen peinlich, weil die protestantischen Kirchen so kritiklos dem Hitler gefolgt waren, was man nach dem Krieg durch unpolitische Frömmelei versucht hatte zu verdrängen. Niemand anderes als Dorothee Sölle hat dem deutschen Protestantismus zurückgegeben, was er sich selbst aus Scham amputiert hatte, was aber doch selbstverständlich ist: Die politische Dimension jeder Religion, der übrigens auch die CDU ihr Namensrecht verdankt. Aber das eigentliche Problem war ja, dass dieses "Politische" links widerborstete und so gar nicht in die bequeme Kuschelecke passte, die man den Kirchen nach dem Krieg eingerichtet hatte (damit ausgerechnet diese den "geistig moralischen Wiederaufbau" mitgestalteten). Ein bisschen Barth und Bonhoeffer, ein Schuss Neuluthertum, Bultmann als Buhmann, ein kräftiger Strahl Pietismus, dazu viel Johann Sebastian Bach. Das ging und war gängig. Heute erinnert man sich wieder an Siebenpfeiffer, Hambacher Fest und 1848. Aber das lag in den 60er und 70er Jahren weit zurück. Ein Grund, warum diese bedeutende Theologin in Deutschland nie für eine Professur oder einen Sitz in kirchenleitenden Gremien in Betracht kam. Trotzdem wurde niemand so häufig und mit oft fiebrigem Eifer gelesen. Kein professoraler Kollege kam mit den Auflagen seiner gelehrten Wälzer auch nur in die Nähe der sölleschen Bücher. Sie beeinflusste eine ganze Generation protestantischer Theologie. Ihre spezifische Mischung aus Frömmigkeit und Politik, Mystik und Feminismus führte zu Sätzen wie: "Wenn das Gebet ernst ist, führt es auch zum Handeln". Theologie war für sie das aktuelle Bemühen, "neue Worte für „Gott“ zu finden".

Sie war keine Provokateurin. Das unterschied sie von Uta Ranke-Heinemann. Der Ernsthaftigkeit ihres Anliegens konnte sich niemand entziehen, wenn sie auf Kirchentagen Bibelarbeiten hielt oder auf Großdemonstrationen gegen Aufrüstung und Krieg sprach. "Niedergefahren zur Sölle" lästerten meist solche, die nie eine Zeile von ihr gelesen hatten.

Dorothee Sölle starb am 27. April im Alter von 73 Jahren.

 

zurück

nach oben